ÖGMw 2018: About Silent Film Music Restoration

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Der Begriff „Musikquelle“ stellt die Forschung im Bereich der Stummfilmmusik vor beträchtliche Probleme. Auf rein historischer Ebene muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass der Großteil der Filme jener Zeit sowie viele ihrer Musikbegleitungen nicht mehr existieren. Handschriftliche Partituren mit der von ihrem Autor vorgesehenen Orchestrierung sind rar (ein geradezu einzigartiger Fall ist die Partitur von Gottfried Huppertz für Fritz Langs Metropolis, 1927); häufiger haben sich Klavierauszüge erhalten (zum Beispiel jene von Edmund Meisel für Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein, 1926), doch diese wurden meistens in einem anderen Zusammenhang und zu einem völlig anderen Zweck produziert. Im Gegensatz dazu ist aus der Stummfilm-Epoche ein großes Repertoire an Stimmungsmusiken überliefert, die ihrer Natur nach entweder einer „musikalischen Illustration“ vorausgehen oder von dieser a posteriori abstammen konnten (wie im Falle der Fantastisch-romantischen Suite Hans Erdmanns, abgeleitet von der Begleitmusik zum Murnau-Film Nosferatu, 1922).

Musikalische Dokumente solch vielfältiger Faktur, die ganz unterschiedliche Momente im Arbeitsprozess einnehmen konnten, werfen weitere Deutungsprobleme auf, wenn sie den Ausgangspunkt für Filmrestaurierungen bilden. Die Musikquelle tritt dann in Beziehung, oder viel häufiger in Kollision, mit einer Quelle anderer Art: der Filmrolle. Diese beiden Dokumente haben einen jeweils anderen ontologischen Wert – oder um ein Begriffspaar Ecoʼschen Ursprungs zu verwenden: Die Musik eines Stummfilms kann als „offener Text“ bezeichnet werden, der bei jeder Live-Aufführung erneuert wird; der Film ist hingegen ein „geschlossener Text“, der mechanisch, nahezu identisch bei jeder Projektion wiedergegeben wird. Hinzu kommt, dass die Autoren dieser beiden Texte je einen unterschiedlichen Status einnehmen: Der Filmemacher unterzeichnet den filmischen Text in jeder Hinsicht; der Komponist betreut stattdessen eine ergänzende Komponente nicht des filmischen Textes, sondern der filmischen Projektion.

Im Gegensatz zu einer emphatisch aus zumeist kommerziellen Gründen proklamierten Authentizität muss man feststellen, dass der Rekonstruktionsprozess oft recht arbiträre Eingriffe in die musikalischen Dokumente erfordert – was jeweils verschiedene Optionen in Bezug auf den ontologischen Status der Partitur und der Filmrolle sowie deren Autorschaften impliziert. Selbst wenn erklärt wird, die vermeintliche „Uraufführung“ im Namen medienarchäologischer Bestrebungen wiederherstellen zu wollen, erweist sich jede Rekonstruktion eines Stummfilms, insbesondere im Dienste einer modernen DVD-Edition, als ein Übersetzungs- und Adaptionsprozess. Das Endresultat ist nicht nur historisch neu und nicht unmittelbar aus dem Zustand der „Quellen“ ableitbar, sondern auch ganz in der ästhetischen Erwartungshaltung der Gegenwart verwurzelt.

Francesco Finocchiaro, Aporien der Filmrestaurierung: Die musikalischen Dokumente der Stummfilm-Zeit zwischen Medienarchäologie und Marktgesetzen, Annual Conference of the Austrian Musicological Society, Vienna, 6–8 December 2018