Der Kinematograph Anthology 1910

 

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Was sonst in keinem musikalischen Berufe und von keinem Musiker irgend eines Instrumentes beansprucht wird, ist für den Kinopianisten gleichsam conditio sine qua non: Er soll frei phantasieren können, also im besten Wortsinne Künstler sein, oder doch intensiv künstlerisch empfinden. Nun, die Fähigkeit zu freier Phantasie ist nicht allzu selten; in der bei Musikern, noch mehr aber bei Dilettanten, üblichen Art ist sie nichts weiter als eine in Töne umgesetzte Gefülhs- oder Persönlichkeitsstimmung ohne jede Schulung. Sie muss sich keinen festen Formen unterordnen und hat nicht auf Kommando, also innerhalb einer bestimmten Zeit und Oertlichkeit stattzufinden. Ja noch weniger ist sie; denn sie versagt in dem Momente, als sie von aussen her gewünscht wird. Auch wo ein greifbares oder sichtbares Sujet nicht vorhanden ist, kann eine künstlerisch veranlagte Persönlichkeit mit wenig Mitteln Wirkungen hervorbringen, die künstlerischer Natur sind. Anders aber gestaltet sich die Sache, wenn, wie bei den Lichtbildern, sich die Phantasie an ein vorhandenes Sujet, also die Bildidee, binden muss und – was das allerschwierigste ist, spontan zu entstehen hat.

Leopold Schmidl, Lichtbild und Begleitmusik, «Der Kinematograph», IV n. 183, 29 June 1910.

Der Kinematograph Anthology 1909

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So ist die Tonbildbühne die prädestinierteste Volksoper; bei ihr sind alle Faktoren vereint, da bei uns wohl fast in keinem Stadtteil ein Kinotheater fehlt. Aber nicht nur die glückliche Verteilung der Kinobühnen ist gegeben, sondern – was der springendste Punkt ist – das für solche Opernabende notwendige Material ist vorhanden, wenigstens teilweise, nämlich soweit die Solisten- und Orchester-Plattenaufnahmen in Frage kommen. Und welche Solisten findet man in den Katalogen! Solisten, die eine Volksoper sich niemals wird verschreiben lassen können. Da finden wir einen Caruso, Slezak, Tamagno; wir begegnen einer Tetrazzini, Hempel, Farrar, Sembrich; wir können einen Plançon, d’Andrade, Schaljapin in unserem Kinotheater singen lassen. Alle diese Künstler sind nicht nur in ihren Arien grammophonisch verewigt, sondern in ganzen Szenen. Weiter besitzen wir die herrlichsten Chöre der verschiedensten ersten Opernhäuser der Welt; wir besitzen ferner die Aufnahmen erster Orchester, die bekanntesten Werke der Operliteratur wiedergebend. Meine Angaben berechtigen zur Behauptung, dass die Kinobühne die einzige ist, die es wagen kann, Opernvorstellungen zu liefern, wie sie auf der ganzen Welt nicht zu hören sind, weil Engagements der Künstler, die ihr grammophonisch zur Verfügung stehen, selbst bei den erhöhtesten Eintrittspreisen garnicht zu zahlen sind. –

Max Olitzki, Die Musik im Kinotheater, «Der Kinematograph», III No. 137, 11 August 1909.

Der Kinematograph Anthology 1908

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Wer von der Ansicht ausgeht, dass selbst scheinbar Nebensächliches zu dem Erfolge des Ganzen beiträgt, der wird in seinem Theater eine Musik spielen lassen, die dem Inhalte der Bilder entspricht. Wo dies der Fall ist, wird sich jeder Zuschauer, ob mehr oder weniger musikalisch, davon angezogen fühlen. Das Zusammenwirken der Reize oder Spannungen, welche durch das Bild hervorgerufen werden, mit einer diskreten, der Handlung sich anschmiegenden Musik, rufen einen Zauber in ihm hervor, den er nicht ohne weiteres auf Konto der Musik setzen wird, aber rasch wird er sich klar sein, wenn die Musik eine schlechte ist.
Am geeignetsten zur musikalischen Begleitung lebender Bilder hat sich das Klavierspiel erwiesen: ein Orchester wird seine Aufgabe selbst bei vorzüglichen Leistungen nie so gut erfüllen können, als ein routinierter Pianist, der sich den einzelnen Teilen der Handlungen, bei Dramen und humoristischen Sujets so exakt anzuschliessen vermag, dass man meint, die Musik sei eigens hierzu geschrieben. Man bedenke ferner, dass die Musik im Kinematographentheater nicht Selbstzweck ist, sondern sie soll die Bilder sozusagen nur kolorieren, man darf daher die Farben nicht zu dick auftragen, sodass man darüber den Inhalt des Bildes vergisst. Kurz gesagt, die Musik muss diskret sein; der gedämpfte Klang des Pianos ist dieser Forderung durchaus gewachsen, Orchestermusik hingegen zu laut und aufdringlich, selbst in grossen Lokalen.
Die Bedeutung einer trefflichen Musik darf also kein Kinobesitzer verkennen. Wenn man wünscht, dass die Zeit, da der Kinematograph seine Salonfähigkeit erlangt hat, nicht allzulange auf sich warten lässt, muss man auf diesen Punkt einen ganz besonderen Wert legen.

[S.n.], Die Musik zum lebenden Bilde, “Der Kinematograph”, II 99, 18 november 1908.

Der Kinematograph Anthology 1907

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Es war gewiss kein schlechter Gedanke, den kinematographischen Vorführungen das Klavier (im engeren Sinne als Orchester) beizugeben. Betrachtet man nun dieses Tun etwas näher, so kommt man unwillkürlich zu dem Ergebnis, dass hier Zweck und Wirkung in schönster Opposition stehen. Diesen Eindruck erhält ein verständiger, aufmerksamer Beobachter, sobald er die nebensächliche, untergeordnete Stellung sieht, welche das Klavier heute im Kinematographentheater einnimmt. Mit grösstem Unrecht! Dasselbe hat nicht nur in den Pausen der Vorstellung etwas zu sagen, sondern es hat auch zu den stummen Bildern eine beredte Sprache zu führen.

Henry Sonatore, Das Klavier im Kinematographen-Theater, “Der Kinematograph”, I/14, 7 April 1907.