Der Kinematograph Anthology 1910

 

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Was sonst in keinem musikalischen Berufe und von keinem Musiker irgend eines Instrumentes beansprucht wird, ist für den Kinopianisten gleichsam conditio sine qua non: Er soll frei phantasieren können, also im besten Wortsinne Künstler sein, oder doch intensiv künstlerisch empfinden. Nun, die Fähigkeit zu freier Phantasie ist nicht allzu selten; in der bei Musikern, noch mehr aber bei Dilettanten, üblichen Art ist sie nichts weiter als eine in Töne umgesetzte Gefülhs- oder Persönlichkeitsstimmung ohne jede Schulung. Sie muss sich keinen festen Formen unterordnen und hat nicht auf Kommando, also innerhalb einer bestimmten Zeit und Oertlichkeit stattzufinden. Ja noch weniger ist sie; denn sie versagt in dem Momente, als sie von aussen her gewünscht wird. Auch wo ein greifbares oder sichtbares Sujet nicht vorhanden ist, kann eine künstlerisch veranlagte Persönlichkeit mit wenig Mitteln Wirkungen hervorbringen, die künstlerischer Natur sind. Anders aber gestaltet sich die Sache, wenn, wie bei den Lichtbildern, sich die Phantasie an ein vorhandenes Sujet, also die Bildidee, binden muss und – was das allerschwierigste ist, spontan zu entstehen hat.

Leopold Schmidl, Lichtbild und Begleitmusik, «Der Kinematograph», IV n. 183, 29 June 1910.